An die Abendsonne
(Im August 1788)
Goldne Abendsonne,
O wie bist du schön!
Nie kann ohne Wonne
Deinen Blick ich sehn.
Lachend steigst du nieder
Deine hohe Bahn,
Blickest morgen wieder
Mich so segnend an.
Schon in früher Jugend
Sah ich gern nach dir,
Und der Trieb zur Tugend
Glühte mehr in mir.
Wenn ich so am Abend
Staunend vor dir stand,
Und, an dir mich labend,
Gottes Huld empfand.
In des Herzens Tiefe
War es, als wenn mir
Eine Stimme riefe:
Gott ist nahe dir!
Und bey dem Gefühle
Freute sich die Brust,
Mehr als je bey’m Spiele
Jugendlicher Lust.
Doch von dir, o Sonne,
Wend’ ich meinen Blick
Mit noch höh’rer Wonne
Auf mich selbst zurück.
Schuf uns ja doch beyde
Eines Schöpfers Hand –
Dich im Strahlenkleide,
Mich im Staubgewand.