"Bist geworden älter,
Bist geworden kälter!"
Sag´ ich oft zu mir;
"Laß es dich nicht grämen,
Nicht den Mut dir lähmen,
Kannst ja nicht dafür!

Jeder Tag verglühet,
Jeder Lenz verblühet,
Jede Stimme bricht,
Jede flücht´ge Stunde
Schlägt uns eine Wunde:
Wir nur merken´s nicht.

Erst wenn tausend bluten,
Will es uns gemuten,
Daß die Kraft doch litt;
Stein und Erz verwittert,
Eich´ und Zeder splittert,
Und wir altern mit." –

Das fühl´ ich mit Schmerzen
Oft so klar im Herzen,
Bin so ernst, so still,
Daß ich einen Schleier
Über meine Leier
Scheidend breiten will. –

Und doch – wenn ich wieder
Hoch von Alpen nieder
Ausblick´ in die Welt;
Wenn ich in das Blaue
Schwindelnd aufwärts schaue,
Das der Mond erhellt;

Wenn aus heil´gen Hallen
Orgelklänge schallen,
Wenn der Wildbach braust;
Wenn die Wolkenfalten
Blaue Blitze spalten;
Wenn der Hochwald saust;

Wenn ich, froher Dinge,
Freundesbrust umschlinge,
Mensch mit Menschen bin;
Wenn´s in muntren Kreisen
Schallt von kräft´gen Weisen,
Dann erwacht mein Sinn.

Dann wohl fühl´ ich´s schlagen
Wie in frühern Tagen,
Manches meldet sich;
Und das Aug´ wird heller,
Und der Puls wird schneller,
und ich fühle mich.

Und mir sagt´s ein Sehnen:
"Laß solch eitles Wähnen;
Bist nicht, was du scheinst!
Du wardst noch nicht älter,
Du wardst noch nicht kälter,
Bist noch jung wie einst!"

Johann Gabriel Seidl
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